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Anna Karina - «Ma ligne de chance»

SOTW #2-2009

Die Wahrheit, 24 Mal in der Sekunde

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Morgens in einem Hotelzimmer. Anna steht vor der Kommode und betrachtet sich im Spiegel, der schief darüber hängt. Dann senkt sie ihren Blick auf ihre Hände und flüstert traurig:

Moi j'ai une toute petite ligne de chance…
si peu de chance dans la main,
ca me fait peur du lendemain.

Sie hebt ihren Kopf und blickt tief in ihre eigenen, dunkeln Augen. Tränen befinden sich nun in ihnen. Sie dreht sich von ihrem Spiegelbild weg und schaut sich im Zimmer um. Viel befindet sich nicht darin. Ein geschlossener, leerer Holzschrank, ein Fenster mit Blick auf einen vergessenen und vergammelten Hinterhof, zwei Türen, von denen eine ins kleine, schäbige Badezimmer und die zweite auf den Gang raus führt, ein grosses Bett mit schweren, zerwühlten Laken, ein Nachttisch auf der linken Seite des Bettes, auf dem Zigaretten, Schlüssel und ein Aschenbecher liegen. Rechts neben dem Bett steht ein hoher und breiter, aber schmaler Karton, über den scheinbar achtlos einige Kleidungsstücke geworfen wurden. Auf dem Boden und auf der Kommode hinter Anna befinden sich weitere Kleider. Auf der Kommode liegt ausserdem auch ein kleiner, alter Revolver. Die Bettlaken beginnen sich nun zu bewegen und nach einiger Zeit lugt aus ihnen der zersauste Kopf Hans-Paul’s hervor. Anna guckt ihn verängstigt an und fragt ihn leise und verzweifelt:

Ma ligne de chance,
dis moi chéri ce que t'en penses?

Hans-Paul, etwas ratlos und noch nicht vollständig aufgewacht, antwortet schlafgetrunken:

Ce que j'en pense, quelle importance,
c'est fou c'que j'aime ta ligne de hanche!

"Ach du!" sagt Anna resigniert. "Wie kannst du nur schlafen, bei der Gefahr, in der wir uns befinden!" "Hör mal Schätzchen, ich bin müde. Ich weiss, dass wir ein paar Probleme haben, aber nicht hier drin – noch nicht. In einer Stunde brechen wir auf. Und bis dahin möchte ich schlafen, damit ich dann ausgeruht bin, wenn wir weiterfahren."

Draussen, es ist Mittag und brennend heiss. Ein Paar kommt aus dem Eingang des Hotels und geht in Richtung des Hotel-Parkplatzes. Sie, jung, ausserordentlich schön und mit einem gepunkteten Sommerkleid bekleidet, geht mit gesenktem Kopf und blickt hin und wieder verstohlen um sich, als ob sie jeden Moment ein Unglück erwartet. Er, nicht viel älter, aber um einiges verlebter als sie, etwas nachlässig angezogen, mit Hut auf dem Kopf und dicker Zigarette zwischen den Lippen, trägt mit beiden Händen den grossen, schmalen Karton. Er blickt sich nicht um, schaut nur hin und wieder nach seiner Begleiterin, während beide auf die geparkten Autos zugehen. Er wirft den Karton auf den Rücksitz eines blauen Simca Kabriolets und hüpft über die Tür in den Fahrersitz. "Aber Schatz", sagt sie erschrocken, "das ist doch nicht unser Auto! Der HY steht da drüben!" "Du bist wohl noch nie im Kino gewesen? Die suchen nach dem silbernen HY, also werden wir jetzt den Simca nehmen, steig ein!" "Aber Hans-Paul, der Karton… es liegt einfach so offen da auf dem Rücksitz, jeder wird es sehen!" "Niemand wird es sehen, es ist im Karton. Ausserdem fallen wir nicht auf, wenn wir uns nicht auffällig verhalten, also steig jetzt ein!"

Auf der Küstenstrasse. Ein Paar fährt in einem blauen Cabriolet das Meer entlang. Sie passieren kleinere und grössere Dörfer, fahren durch Weintrauben und Pinienwälder. In einem der Dörfer halten sie und besuchen ein Bistro. Anna setzt sich an einen Tisch, während Hans-Paul den massiven Tresen entlang nach hinten zum Telefonapparat geht, einige Münzen einwirft und wählt. Anna bestellt eine Cola für sich und einen Kaffee für Hans-Paul, der in diesem Moment bereits an den Tisch kommt und sich setzt. Sie trinken, rauchen und schauen sich im Bistro um, sprechen aber nicht. Plötzlich steht Anna auf und geht zur Jukebox, die in der Ecke neben dem Eingang steht. Sie wirft Geld ein und wählt. Als die Musik – ein alter Twist – erklingt, beginnt sie mit den Fingern im Takt zu schnipsen und fängt dann an zu tanzen. Es ist ein seltsamer, wie einstudiert wirkender, aber dennoch keineswegs perfekt vorgetragener Tanz. Anna wiederholt immer dieselben Bewegungen und scheint dabei alles um sich herum zu vergessen. Die anderen Gäste – alles Männer und offensichtlich alles Stammgäste – drehen sich zu ihr um, starren kurz hin und wenden sich dann kopfschüttelnd und sich gegenseitig viel sagende Blicke zuwerfend wieder ihren Gläsern zu. Der einzige, der die ganze Zeit über aus dem Fenster auf den Dorfplatz gestarrt hatte, ist Hans-Paul. Als das Lied zu Ende ist, setzt sich Anna wieder zu ihm. Sie ist völlig ruhig und überhaupt nicht ausser Atem, trotz ihrem Tanz. "Wir können nicht nach Marseille, Schätzchen, ist viel zu gefährlich. Wir sollten den verfluchten Karton einfach ins Meer schmeissen und uns gleich mit, die Sache ist gestorben, der ganze Raub war für nichts." Anna guckt ihn an und will etwas sagen, als sie merkt, dass Hans-Paul beunruhigt nach draussen starrt. Sie folgt seinem Blick und sieht, dass drei Männer, davon zwei in Polizeiuniformen, sich über das blaue Simca Kabriolet gebeugt haben und den darin liegenden Karton äusserst interessiert betrachten. Der Mann ohne Uniform hebt seinen Blick und schaut zu den Fenstern des Bistros herüber. "Los, wir gehen, Schätzchen. Hinten raus!" sagt Hans-Paul und holt den kleinen, alten Revolver aus der Tasche seines Anzugs. "Das Bild vergessen wir, mir müssen abhauen." Sie gehen nach hinten und durch die Tür zu den Toiletten, als vorne die Eingangstür aufgeht und der Mann, der zuvor mit den Uniformierten den Simca betrachtet hatte, eintritt.

Interpret: Anna Karina (Musik: Antoine Duhamel)
Album: Aus dem Film Pierrot le fou, das Lied ist u.a. auf der tollen Compilation «Jean-Luc Godard: Histoire(s) de Musique» enthalten
Song: Ma ligne de chance
Jahr: 1965

Internet: Filmausschnitt (aus «Pierrot le fou»),
Studioaufnahme (mit Szenen aus diversen Godard/Karina-Filmen).

Empfohlene Tätigkeit beim Hören dieses Songs: Ein Verbrechen planen.

Artwork: Das gestohlene Bild, ein echter Mathis! Nachgemalte Szene aus «Alphaville».








SongOfTheWeek

Geschichten, die die Musik schreibt. 1x pro Woche, mit tollen Metaphern.

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