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Boris – «Buzz-in»

SOTW #44-2008

Small in Japan

sotwboris_buzz-in.JPG

Mit dem Auftrag, das übervolle sotw.ch-Spesenkonto ein wenig zu erleichtern, machte ich mich auf, den (mehreren Reiseführern zufolge) grössten Tonträger-Laden dieser Galaxis zu besuchen. Gleich mal vorweg, meine beiden Hauptdesiderate, die auf läppische 5000 Exemplare (welcher Nepp hat bloss diese Entscheidung getroffen?) limitierte Knight-Rider-Soundtrackcompilation von Stu Phillips und das einzige (mir bekannte) Album («Armoured Weapon») der japanischen Industrial-Rock-Combo Der Eisenrost konnte ich auch in diesem gigantesken Musiksupermarkt nicht finden. Dennoch hat sich der Besuch eindeutig gelohnt, wenn auch nicht unbedingt für meinen Geldbeutel.

Der Laden füllt ein ganzes Hochhaus und heisst deswegen auch gleich Tower Records. Wobei, Tower Records ist eigentlich eine ganze Laden-Kette, ich spreche hier aber von einer bestimmten – der grössten – Filiale, die in der Nähe der Shibuya Station zu Tokio, Japan liegt. Mit dem Lift flog ich die Aussenfassade des Musik-Turms hoch und startete meine Odyssee im obersten Stockwerk, um mich von da an Etage um Etage runter zu ackern. Zig Genres und Stunden später fand ich mich schliesslich im ersten Stock wieder, Abteilung J-Pop und J-Rock. An praktisch jedem Regal plärrte eine andere Band aus dem Lautsprecher und eine (fürs europäische Ohr) schräger als die andere. Mehr als eine halbe Stunde in dieser Etage und man hat entweder Sprühstuhl (bei den japanischen Toiletten eigentlich gar kein dermassen gravierendes Problem, sofern man nichts gegen eine kalte Gesässdusche hat) oder weist sich gleich selbst ins nächstgelegene Irrenhaus ein. Mit einer Liste verschiedener tollen japanischen Bands machte ich mich auf, nach lokaler Musik zu suchen. Leider hatte ich beim Zusammenstellen dieser Liste nicht daran gedacht, dass die Bewohner dieses Musikverrückten Landes Schriftzeichen und keine Buchstaben benützen und der englischen Sprache eher schmächtig denn mächtig sind. So beschränkte ich mich auf die Suche nach der oben genannten japanischen Underground-Band, die übrigens auch die ersten paar Filme des kultigen Regisseurs Shinya Tsukamoto vertont haben (wer einen starken Magen, unbeeindruckbare Augen und Ohren sowie die Gelegenheit dazu hat, sollte sich die beiden Tetsuo-Filme auf keinen Fall entgehen lassen!) und nach der neuesten Scheibe der Band Boris, deren Name mir mein Bruder netterweise in japanischer Schrift notiert hat. Wie die Suche nach der ersten Scheibe ausging, ist ja seit der Einleitung bekannt, Smile, das neuste Werk von Boris jedoch konnte ich nach tragisch-komischer Unterhaltung mit einem Laden-Mitarbeiter ausfindig machen. Ich will jetzt gar nicht gross auf die Scheibe eingehen, Genrebezeichnungen und Anleihen an andere Bands erübrigen sich komplett, zu fremd und eklektisch sind die Klänge und Einflusswelten dieser düsteren – vgl. Albumtitel – Band. Eine Inhaltsanalyse der Texte bringt auch keine weiteren Erkenntnisse ausser der, dass ich kein Japanisch verstehe. Die japanische Exzentrik (falls ihr schon mal in einem japanischen Snowboardgeschäft wart und die Farben der dort feilgebotenen Jacken gesehen habt, versteht ihr, was ich meine) schlägt bei diesem Album allerdings nicht bloss auf musikalischer Ebene durch, sondern auch bei der Verpackung, die aus einem gelbem Plastikcover besteht und deren durchsichtiges Booklet durch die Verteilung der Schriftzeichen aussieht wie eine Lochkarte.

Glücklich und erschöpft schleppte ich mich nach diesem Kauf zur letzten Rolltreppe, die mich ins Erdgeschoss brachte. Ich verliess den Laden und hätte mich hingesetzt, wenn es in dieser Stadt Bänke gäbe und hätte darüber nachgedacht, dass es eigentlich erstaunlich ist, dass in einer dermassen hoch industrialisierten und von technologischen Neuheiten und Entwicklungen durchdrungenen Gesellschaft wie der japanischen dermassen riesige Cd-Geschäfte (man erinnert sich an den, meist mit abschätzigem Unterton vorgetragenen hiesigen Standartsatz: "Ich kaufe schon seit Jahren keine Cds mehr!") dermassen florieren. Tower Records ist schliesslich nur eine von unzähligen Musik-Ketten, wobei besonders die Disk-Union-Läden, die auch gebrauchte Cds anbieten und sich unter anderem durch hervorragend sortierte Progressive-Rock-Gestelle («La Düsseldorf/Neu!/CHA CHA 2000 live in Tokyo» – wie geil ist das? Zitat aus dem Booklet: "Currently not available in germany because of legal dispute"…bei solchen Trouvaillen wird man nolens volens zum Musik-Otaku!) löblich hervorzuheben sind. Darüber hinaus endet die Begeisterung der Japaner für (prä-digitale) Kulturgüter (für die Compact-Disk eine zugegebenermassen etwas anmassende Kategorisierung, aber dennoch…) mitnichten bei scheibenförmigen Tonträgern aller Art. Läden mit Plastikfigürchen und allerlei Film- und Manga-Memorabilia, altertümlichen Videospielkonsolen (ich habe in einem solchen Geschäft mit eigenen Augen einen original japanischen Famicom, bei uns als Nintendo Entertainment System NES bekannt, gesehen – und spontan beschlossen, diese Augen nie wieder zu waschen), sowie antiquarischen Büchern und Postern füllen ganze Viertel. All diese Läden bilden in ihrer Gesamtheit ein riesiges Archiv der japanischen, aber auch westlichen (Populär-)Kultur, denen eine Berücksichtigung in Form eines Museums leider bis heute komplett versagt blieb. Eigentlich unverständlich, denn wie gern wäre ich in ein Videospiel-Museum oder ein Godzilla-Museum gegangen! Der Riesenechse, die wie keine zweite Figur das atomare Trauma der japanischen Nachkriegszeit verkörpert, wurde in Tokyo immerhin eine Statue gegönnt. Eine Statue, die dermassen klein und versteckt ist, dass sie anstelle von Furcht und Terror den Charme eines exotisches Haustiers verströmt – wenn man sie denn überhaupt findet. Hoch wie der Tokyo-Tower sollte diese Statue sein. Und riesig wie die an Zahl und Grösse unendlichen Einkaufstempel zusammen sollte das Museum für Super Mario, Sonic und ihre Artgenossen sein!


Interpret: Boris, JPN
Album: Smile
Song: Buzz-in
Jahr: 2008

Internet: Band, Wikipedia

Empfohlene Tätigkeit beim Hören dieses Songs: Keine, bei der man sich auf irgendeine Art konzentrieren muss.

Artwork: Godzilla-Statue in Ginza, Tokio.





Comments

Will auch Zwergengodzillas streicheln und auf nicht vorhandenen Bänken über riesen CD-Läden nachdenken. :(

Das sich ein CD laden in Japan noch rentiert... das sind doch so Technologiefreaks? oder gabs da auch stationen, an denen man seinen mp3-player anschliessen konnte um sich das gewünschte Album raufzuladen?

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