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«Des taxis pour les galaxies» - Noir Désir Special

SOTW #49-2008

Die bereits alte Herrschaft der Elektrizität

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Bald wird es – hoffentlich – soweit sein. Die Jungs von Noir Désir werden wieder ein Studioalbum aufnehmen und veröffentlichen. Dieses Album wird viel zu reden geben, wobei allerdings wohl leider nicht die Musik, sondern der Gefängnisaufenthalt – und insbesondere dessen Grund – des Sängers der Band und nicht die Musik im Vordergrund der Berichterstattung stehen wird. Aber auch wenn sie in der Berichterstattung nur ein Randdasein fristen wird, bin ich sicher, dass die musikalische Seite dieses Comebacks eindrücklicher und triumphaler sein wird als eine 1. Mai-Parade in Pyöngyang, dermassen unerhört toll waren und sind schliesslich die bis heute erschienen Werke dieser Band. Und damit ihr auf den Kauf und das Hören der neuen Schöpfung gebührend vorbereitet seid, folgt hier mal ein kleiner Überblick über einige – meiner bescheidenen Meinung nach – der grössten Perlen aus Werk von Noir Désir. Dazu muss gesagt werden, dass es sich um eine äusserst subjektive Auswahl handelt und dass hier bei weitem nicht alle Stilrichtungen der Band in wünschenswertem Masse berücksichtigt werden. Vielmehr sei diese Liste als Ausgangspunkt verstanden, anhand dessen man in die Welt dieser wunderbaren, in unserem germanophonen Landesteil leider viel zu unbekannten Band eintauchen und nach seinen eigenen, persönlichen Perlen tauchen kann.

Auch wenn die Band viele verschiedene musikalische und lyrische Vorbilder hat, verfügt sie dennoch über einen sehr eigenständigen und wieder erkennbaren Stil. Bereits auf ihrem ersten Kurzalbum «Ou veux-tu q’je r’garde» finden sich mehr als deutliche Spuren von dem Sound, der Noir Désir später zu einer der beliebtesten Rockbands Frankreichs bzw. des französischen Sprachraums werden liess. «Danse sur le feu Maria», das uns hier als Beispiel für dieses Frühwerk dient, beginnt wie ein trauriges Kinderlied, wobei schon bald düstere Trommelwirbel drohendes Unheil ankünden, das sich dann allerdings als durchaus muntere und mit-hüpf-bare Angelegenheit herausstellt, die nicht nur die gute Maria tanzen lässt.

Album: Ou veux-tu q’je r’garde?
Song: Danse sur le feu Maria
Jahr: 1987
Tollste Songzeile:
Notre père qui êtes aux cieux
Accordez nous une heure ou deux
Pour glisser sur la tranche des lames
Mais sans bien sûr blesser les âmes

"Würden Sie bitte die Seele zurück geben (demjenigen, dem Sie gehört)" heisst das Album, welches vom Song «A l’arrière des taxis» eröffnet wird. Dieses Album belegt seit Beginn der Messungen den ersten Platz unter den von mir meistgehörten französischsprachigen Cds (allerdings sehr dicht gefolgt von «Best-of Joe Dassin»-Compilation) und ist dermassen toll, dass ich gleich drei Lieder davon in diese Liste aufgenommen habe. Der Opener ist eine delirierende Fahrt durch verschiedene Orte und Epochen – eine rasante Reise durch das Leningrad der frühen Futuristen oder ein Besuch in der versteckten Dekadenz Ost-Berlins kurz vor dem Fall der Mauer – von der die Protagonisten allerdings nur wenig mitbekommen, da sie im Fonds des Taxis andersweitig beschäftigt sind.

Album: Veuillez rendre l’âme (à qui elle appartient)
Song: A l’arrière des taxis
Jahr: 1989
Tollste Songzeile:
Peu importent les années
Et peu importent les villes

Jetzt wird es so richtig schwierig, denn ich persönlich halte den Song «Les écorchés» für einen der besten aller Zeiten, was eine Beschreibung nicht eben einfach macht. Der Sound? Nicht schnelle, nicht langsame, aber präzise und fette Kesselschläge, um die sich eine unerhört satte Basslinie geschmeidig schlängelt. Der Text: äusserst kryptisch, nicht nur, weil er französisch ist. Mit fremdsprachigen Liedtexten ist das ja immer so eine Sache. Man kann alle Wörter kennen, verstehen tut man aber trotzdem nichts. Dies führt – bei mir zumindest – dazu, dass man sich aus den Teilen des Textes, die man zumindest teilweise in ihrer Mehrdeutigkeit versteht, eine völlig eigene Interpretation des Liedinhalts zusammenschustert. Und deswegen will ich jetzt gar nicht länger darauf eingehen, wieso ich den Song so mag, sondern verweise auf den Link unten, wo ihr eine Darbietung des Songs während einer TV-Show angucken und euch fragen könnt, was daran denn sooo toll sein soll, ausser der Bildqualität natürlich (VHS!!!).

Album: Veuillez rendre l’âme (à qui elle appartient)
Song: Les écorchés
Jahr: 1989
Link: TV-Auftritt (1990)
Tollste Songzeile:
Allez enfouis-moi
Passe-moi par dessus tous les bords
Encore un effort
On sera de nouveau
Calmes et tranquilles

Der Song Johnny erzählt in zwei Teilen die Geschichte des von nächtlichen Eskapaden gezeichneten gleichnamigen Protagonisten. Aus irgend einem Grund erinnert mich dieser Song immer an die Doors, vielleicht wegen der Stimme Cantats, besonders im zweiten Teil des Liedes, vielleicht auch wegen dem indianisch-urtümlichen Chant in der Mitte von Joey I oder wegen dem Lebenswandel der im Lied beschriebenen Figur, die auf gewisse Weise durchaus an Jim Morrisons schlingernde Existenz errinnert, aber so gesehen auch derjenigen Cantats oder jedes anderen Rockstars, der etwas auf sich hält, ähnelt. Auch wenn, besonders in der Stimme, die Doors sicher zu den Vorbildern von Noir Désir zu zählen sind, tatsächlich gecovert haben Noir Désir die Doors meines Wissens nie. Aber dank dem unendlichen Trivia-Fundus Wikipedia habe ich entdeckt, dass sie irgendwann mal Van Morrisons «Gloria» live gespielt haben, ein Song, den ja bekanntlich auch die Doors gerne mochten und wunderbar gecovert hatten.

Album: Veuillez rendre l’âme (à qui elle appartient)
Songs: Johnny I & II
Jahr: 1989
Tollste Songzeile:
Ou est-ce de la transe, dont tu as besoin?

Tostaky, das Titelstück des gleichnamigen, sehr erfolgreichen Albums, ist ein energisches, in englisch und spanisch gesungenes Lied, das Bertrand Cantat, in Mexiko weilend und die Geschichte Emilio Zapatas lesend, schrieb und das mit energischen wie poetischen Zeilen über das Wesen und den Zustand der Neuen Welt berichtet. Ich erinnere mich daran, dass mir Julien, der mich einst mit der Musik von Noir Désir vertraut gemacht und dem hierfür herzlich gedankt sei, erzählte, dass dieses Riffs mit Garantie jeden (geneigten) Franzosen sofort aufspringen und wild drauflos pöögen lässt, was er dann mit einem Druck auf die Play-Taste sogleich demonstrierte. Eindrücklich lässt sich dies am unten eingefügten Live-Mitschnitt beobachten, hier bleibt nun wahrlich kein Auge bzw. keine Achselhöhle trocken.

Album: Tostaky
Song: Tostaky
Jahr: 1992
Link: Live (2001)
Tollste Songzeile:
Soyons désinvoltes,
n'ayons l'air de rien

Die Mitglieder von Noir Désir sind kritische und intelligente Beobachter unserer Zeit und Zeitgenossen. Auf ihrem Album «666.667» rechnen sie mit den Vertretern und Wählern des rechtsradikalen Front National gnadenlos ab und desmaskieren machthungrige Politiker und geldgierige Geschäftsleute auf stupende Art und Weise. Es bleibt nur zu hoffen, dass es irgendwann mal ein Song namens «1 jour en suisse» gibt, viel schlimmer kann es hier ja schliesslich nicht mehr werden... oder?

Album: 666.667 Club
Song: 1 jour en france
Jahr: 1996
Link: Videoclip
Tollste Songzeile:
Allez, danse avec Johnny

Mit dem bis anhin letzten Studioalbum «Des visages, des figures» gingen Noir Désir noch einen Schritt weiter und steigerten sowohl ihre musikalische Breite wie auch ihre inhaltliche Dichte in nicht mehr für möglich gehaltenem Masse. Postklassische Songstrukturen und -Längen, eklektische Mixturen verschiedenster Stile und Instrumente, Kolaborationen mit anderen Künstlern (der unvermeidliche Manu Chao, die umtriebige Brigitte Fontaine) lassen eine fiebrige wie intelligente World Music entstehen, die schlichtweg ihresgleichen sucht. «Le vent nous portera» ist ein wunderbares Lied, voll von Poesie, positiver Energie, überraschender Hoffnung und alles durchdringender Genialität.

Album: Des visages des figures
Song: Le vent nous portera
Jahr: 2002
Link: Videoclip, Live (2002)
Tollste Songzeile:
Je n'ai pas peur de la route
Faudrait voir, faut qu'on y goûte
Des méandres au creux des reins
Et tout ira bien
Le vent l'emportera

Vor ein paar Tagen habe ich per Zufall beim surfen entdeckt, dass Noir Désir auf ihrer Website zwei nagelneue, eben erst aufgenommene Songs zum downloaden feilbieten. Dieses Angebot habe ich natürlich dankend angenommen und mir die beiden ersten neuen Songs seit über sechs Jahren auf meine Hermes Media 3 heruntergeladen. Wie ihr euch denken könnt, konnte ich mit diesem Gerät nicht allzu viel hören, aber das was ich gehört habe, hat mir – wen wird das an dieser Stelle noch überraschen – sehr gut gefallen. Besonders das Cover «Le temps des cerises» fand ich sehr gelungen, der Song hat durchwegs das Potential, auf den nächsten Küchensampler («Würz-Mix 2») zu gelangen.

Album: k.A./Internet-Download
Song: Le temps des cerises (i.O. von Jean-Baptiste Clément)
Jahr: 2008
Link: Download-Link

Artwork: Tokyo des nachts








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