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Diplo – «Diplo Rhythm»

SOTW #3-2009

Wenn man nicht so ist, wie man gerne wäre

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Als ich ungefähr zwölf war, schenkte mir mein Vater das Buch „Cool Girl“ von Blake Nelson. Eine Geschichte über das Erwachsenwerden. Eine Leidensgeschichte also. Selbstfindung, Dazugehören, gesellschaftliche Zwänge, Grenzen, falsche Freunde, echte Feinde, erster Austausch körperlicher Flüssigkeiten, Jungs, vor allem Jungs mit Gitarren auf Bühnen sowie Musik spielten da eine grosse Rolle. Und natürlich Carla. Ich liebte es. Las es in den Jahren zwölf bis sechzehn sicherlich so oft, wie Nick Hornby in seinem Leben den Song „Thunder Road“ von Springsteen gehört hat. Also sehr oft. Es sei hier jedoch gesagt, dass ich damit nicht die literarische Qualität dieses Buches unterstreichen möchte. Man mag ja auch bezweifeln, dass „Thunder Road“ das Zeugs zum ultimativen Song des Lebens hat. Aber gewisse Dinge ergeben sich halt einfach.

Zurück zu Carla. Dem Inbegriff von Vorbild und Feindbild, von Freundin und Feindin, von Bewunderung und Verabscheuung. Ich weiss ja nicht, wie das bei euch Jungs ist, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass jedes Mädchen ihre ganz persönliche Carla hatte, die einem, meist aus der Distanz, den Weg durch den Dschungel der Coolness wies und sich so traumatisierend ins Gedächtnis eingeprägt hat, dass man sich auch Jahre später noch an ihr misst, egal ob man sie je wieder gesehen hat. Wunderschön, problemfrei, mystisch, talentiert, porentief rein. „Every girl wants to be her, every boy wants to be with her.“ Einfach genuin cool. Und somit von Grund auf hassenswert. Für Annett Louisan heisst diese Frau Eve, bei Fettes Brot ist es Yasmin und bei Andrea Marr aus „Cool Girl“ war es eben Carla.

Das Erwachsenwerden und anschliessend das Erwachsensein besteht im Grunde darin, sich langsam aber sicher und sehr schmerzlich von diesen Carla-Idealen zu verabschieden und einzusehen, dass man leider nicht so ist, wie man gerne sein würde. Zum Beispiel wäre man gerne spontan, regt sich aber fürchterlich über unangemeldeten Besuch auf, da die Wohnung und ihre Insassen nie spontan präsentierbar sind und stellt sich deshalb tot, wenn’s an der Tür klingelt. Man wäre vielleicht auch gerne schlagfertig, doch fällt einem blöderweise immer erst im Nachhinein der gewitzte und leger rübergebrachte Totschlagspruch ein (siehe dazu auch die aktuelle Stronzo-Kolumne von Max Küng). Gerne sähe man sich auch als politisch fundiert informierter Mitbürger, der sich zu allen aktuellen Themen kompetent äussern kann, schafft es aber aus unerfindlichen Gründen nicht einmal den wöchentlich ins Haus flatternden „Economist“ von seiner Plastikhülle zu befreien (man bemerke und honoriere hier wenigstens die Anstalten, das Ding überhaupt abonniert zu haben, bitte). Man glaubt auch jung und dynamisch zu sein, bis man feststellt, dass es einem gar nicht so viel ausmacht, am Samstag Abend zu Hause rumzugammeln oder um elf Uhr nach dem Kino direkt nach Hause zu gehen. Da fahren wenigstens noch Busse und man muss sich nicht mit dem pubertären Pöbel rumschlagen und auch nicht mit all den Jungdynamischen, die sich total spontan aufgemotzt in den In-Clubs von Zürich treffen um sich 20 Minuten lang fundiert über Politik zu unterhalten (bzw. anzuschreien), um zu vertuschen, wie langweilig es dort eigentlich ist. Und zu guter Letzt musste ich vergangene Woche auch noch feststellen, dass ich prüde bin (hätte ich also echt nicht gedacht). Meine Nachbarin scheint nämlich einen neuen Lover zu haben, was ich in Form von Bett-an-meine-Wand-Knallen und Gestöhne zu Tages- und Nachtzeiten mitbekomme. Meine erwünschte Reaktion darauf wäre gewesen, das toll zu finden, mich für sie zu freuen, darüber hinwegzusehen, dass ich nicht genug Schlaf bekomme, schliesslich bin ich ja noch jung und so und Sex ist ja heute kein Tabu mehr, gehört zum Leben, ist gesund blablabla. Meine tatsächliche Reaktion darauf war zwar sehr spontan, doch äusserst uncool: Gopfertammi, das kanns ja wohl nicht sein, wo sind wir denn da?, das kann doch nicht tatsächlich Tag und Nacht so gehen, haben die denn überhaupt keinen Anstand mehr?, schämen die sich eigentlich nicht?, das muss ich jetzt aber echt nicht auch noch über meine Nachbarn wissen, will ich mir nicht vorstellen müssen, eine Frechheit ist das... Als der erste Prüdheitsanfall nachliess und vor allem der Schock über das derart fragwürdige Verhalten meinerseits, griff ich zur Lösung aller Probleme: der Musik. Ganz spontan à la jungdynamisch wurde „Diplo Rhythm“ laut aufgedreht, in der Hoffnung, das Gerammel meiner Nachbarn aus dem Rhythmus zu bringen und mich von meiner neu entdeckten Prüdheit abzulenken. Musik hilft immer und überall. Und HA!, siehe da, es hat gewirkt. So gut ist der Song.

Interpret: Diplo feat. Sandra Melody, Vybz Cartel & Pantera Os Danadinhos
Album: Florida
Song: Diplo Rhythm
Jahr: 2004

Internet: Diplo , Last.fm

Empfohlene Tätigkeit beim Hören dieses Songs: Uncool sein. Sich fremdschämen.

Artwork: Lea für SOTW





Comments

Erstens ein Einwand: Nein, mag man nicht. Darf man nicht! (Bezweifeln, dass „Thunder Road“ das Zeugs zum ultimativen Song des Lebens hat.)

Zweitens ein Tipp: Economist freitags sofort von Plastikhülle befreien, Flyer rausschütteln, 2-3 Mal grob durchblättern. Danach prominent in der Wohnung platzieren. Wirkt intellektueller als eine Hornbrille.

Drittens eine Frage: Lässt sich aus dem Beat von «Diplo Rhythm» der Rhythmus deiner Nachbarin ableiten? Wenn ja: Whoa.

und ich dachte schon, ich sei die einzige mit einer solchen nachbarin...
Allerdings hab ich erst sehr cool reagiert und gedacht, hey wenn sie nach drei jahren zum ersten mal wieder sex hat (morgens um halb fünf unter der woche...), mag ich ihr das ja gönnen... nach den mehreren monaten fand ichs aber garnicht mehr lustig - der spiesser in mir findet nämlich, dass man doch ein bett so befestigen kann/muss, dass es nicht quitscht und gegen die wand schlägt, ausserdem gibts ja noch andere möbelstücke als das bett...

überflüssige economister dürfen ab ende märz gerne bei mir in obhut gebracht werden.

und was das bett betrifft: das ist der fluch der ikea-gesellschaft. alles wackelt, nichts hält. vielleicht solltet ihr euren nachbarinnen geschenkgutscheine für ein neues bett schenken. massivholz, von euch persönlich am boden verschraubt.

übrigens, werft mal einen blick auf die Google-Anzeigen da unten. "Schallschutz - Schall-, Späne- und Spritzschutz Entwicklung bis zur Endmontage", "Akustik Schaumstoffe. Hall und Lärm schnell reduziert, kompetent - günstig - schnell!"

@ Joe: Danke für den Tipp. Prominent in der Wohnung platziert sind sie allemal, es macht aber nur halb so einen intellektuellen Eindruck, wenn sie noch eingepackt sind... und diese Flyer sollten verboten werden!
Bezüglich der Sexaktivitäten von nebenan kann ich nur über Quantität, nicht Qualität berichten...

@Lu: Ja, ich wundere mich auch, dass ich die letzten 3 Jahre keine derartigen Belästigungen erfahren habe... ich hoffe für sie, dass es einfach ein neues Bett oder ein neuer Lover ist... und ja, ich gebe dir Recht, so schwer kann das ja nicht sein, dieses Bett Sextauglich zu machen. Ich habe mir schon einige (schriftliche) Konversationen ausgemalt, wie ich sie höflich, unpeinlich und trotzdem alarmierend darauf ansprechen könnte, wenn das so weitergeht... Und halb 5 morgens scheint eine beliebte Zeit zu sein... Vielleicht könnten wir den beiden auch mal einen Wohnungstausch anbieten oder so.

@Tobi: Die Anzeigen sind der Hammer!!!! Lachanfall...

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