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Liricas Analas - «Futur»

SOTW #31-2010

Wenn die Heimat fremd wird

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Da waren zuerst diese ätzenden Halsschmerzen, die ich mit Salbeitee in den Griff kriegen wollte und deshalb das ganze Büro verstunken habe. Dann war da diese wichtige Präsentation, die irgendwie meine Arbeit der letzten acht Monate in gutes Licht rücken sollte, was, wie erwartet, diplomatisches Geschick und nicht zu wenig Aufwand erforderte. Dazwischen waren die Winterthurer Musikfestwochen. Da kann ich leider echt nichts für. Und jetzt denkt mein Chef, ich wäre verkatert wie ein pubertierender Bühnenroadie gewesen. Vor lauter Schock darüber bin ich nun jedenfalls seit über drei Tagen stimmlos.

Deshalb beschliess ich, mich in meiner Wohnung zu verkriechen, um die Möglichkeit, angesprochen zu werden, auf Null zu reduzieren. Abgesehen von den Selbstgesprächen, die man in den Griff kriegen muss, geht das auch ziemlich reibungslos, wenn man alleine wohnt. Inmitten meines üblichen Mulitasking-Trios, bestehend aus Internet, Fernseher und Buch, fing ich also an, das Wochenende zu „geniessen“. Das Internet und die Bücher brauchte ich für die Ferienvorbereitung, denn der Winter ist im Anmarsch und das heisst, ich muss mich um meine temporären Auswanderungspläne kümmern. Der Fernseher benötige ich aus Einsamkeitsgründen. Am besten Live-Übertragungen, die beruhigen mich enorm. Denselben Effekt verspürte ich damals als Kind, als ich lieber mit offener Türe einschlief, um noch mitzubekommen, wie die Eltern den Abwasch machten. Und hatte ich Glück! – Zwei volle Tage SF-Hüppi-Live: Das Eidgenössische.

Während ich also durch die Lonley Planets von Zentral- und Südamerika blätterte und die Vor- und Nachteile einer Reise durch Panama und Costa Rica, im Vergleich zu einem Trip entlang der Küste Venezuelas mit Abstecher auf eine Karibische Insel abwog, schwangen sich die starken Männer unseres Landes ins Sägemehl. Moment mal. Unseres Landes? Von welchem Teil des Landes reden wir denn da? Sicherlich nicht von meiner Heimat. Ich stellte nach und nach fest, dass mir die verschwitzten Hünen und das pfeiffe- und stumpenrauchende Publikum sowie die „Nachname, Vorname“-Rufkombination fremder waren, als irgendwelche Buschtänze indigener Regenwaldbewohner. Verstört und fasziniert beobachtete ich den Tagesablauf in Frauenfeld, lernte verschiedene Schwünge kennen, jodelte im Stillen mit und bewunderte die Vielfalt merkwürdiger Tätigkeiten, die hierzulande offenbar als Sport betrieben werden (ich sage nur „Steinwerfen“, den Fachjargon hab ich leider vergessen, sorry). Nebenbei entschied ich mich dann für die Reise nach Zentralamerika, obwohl ich mehrmals abwog, ob ich nicht doch auf Heimatentdeckung gehen sollte. Aber ich hielt die Nebenwirkungen des damit verbundenen Kulturschocks für zu gefährlich. Dagegen kann man sich leider nicht impfen.

Die Trachten gefallen mir sehr und auch die Alphörner finde ich immer wieder entzückend. Als mir sehr imponierendes soziales Ritual sei zudem das Abklopfen des mit Sägemehl übersäten Rückens des Verlierers zu erwähnen. Sehr sympathisch. Aber mit meiner Schweizer Realität hat das alles nichts zu tun. Ich kenn es nur aus dem Fernsehen. Es hätte keine Live-Übertragung sein müssen, es hätte genauso gut eine Dokumentation eines fremden, weit entfernten Volkes sein können, das ein spektakuläres Fest feiert, welches so beliebt ist, dass es das grösste Stadion der Welt füllt.

Die Brücke zwischen Tradition und Zukunft zu schaffen, wird für diejenigen Menschen, die in die Tradition reingeboren werden, wohl eine der grössten Herausforderungen der Zukunft werden. Nicht nur im Ausland, sondern offensichtlich auch hier. Musikalisch wird dieser Text deshalb von den Liricas Analas begleitet, welche die tiefe Felsspalte zwischen Herkunft und Modernität hervorragend meistern und mit ihrem letzten Album ein intelligentes, aktuelles und vor allem authentisches Stück Schweizer Identität kreiert haben.

Interpret: Liricas Analas, CH
Album: Analectrica
Song: Futur
Jahr: 2009

Internet: Liricas Analas, Album kaufen oder reinhören

Empfohlene Tätigkeit beim Hören dieses Songs: Schwingend die Auswanderung planen.

Artwork: Sandra für sotw





Comments

zugegebenermassen erst jetzt gelesen, muss mich aber dennoch zu wort melden! was ich noch immer nicht verstehe, wieso findet das schwingfest nicht auf dem ballenberg statt? auch: wieso ist das schwingfest plötzlich so beliebt? das gab es doch wohl schon immer, nur hat das (jedenfalls dort wo ich rumlümmle) keine sau interessiert?! deine entscheidung/schlussfolgerung ist absolut richtig, lea: bloss weg hier! ;)

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