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Neu! - «E-Musik»

SOTW #3-2008

Blanke Harmonie

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Ich hatte irgendwo einen Artikel gelesen. Darin stand, dass die drei lange vergriffenen Alben der Band Neu!, nämlich «Neu!», «Neu! 2» (definitiv in den Top 5 der besten Albentitel aller Zeiten) und «Neu! 75» auf Grönemeyers Grönland-Label neu aufgelegt worden sind. Und dieser Artikel war dermassen euphorisch geschrieben, dass ich gleich am nächsten Tag in der Pause zwischen zwei Stunden Physikpraktikum runter in den Jecklin an der Rämistrasse gerannt bin, um mir «Neu! 75» (die einzige, die es dort gab) käuflich zu erwerben. Beim Zahlen gab es dann prompt freudige Komplimente von der dortigen Verkäuferlegende, einem Typen mit relativ spätem Haaransatz, schwarzen T-Shirts mit Adlern und/oder Indianern drauf und der Angewohnheit, jedem Kunden, der sich nicht schnell genug an einer Hörstation in Sicherheit bringen kann, sämtliche Alben der Band "Yes" dringend zum Kauf zu empfehlen.

Später am Tag zuhause angekommen, warf ich mich aufs Sofa und legte die Scheibe in den Player, allerdings nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Ich hörte mich durch «Isi», «See Land» und «Leb Wohl», wurde schwer und schwermütig und sank ob den unmenschlich genauen Schlägen, dem hypnotischen Wasserrauschen, den sich ständig wiederholenden Gitarren- und Pianomustern und den vereinzelten tiefen Flüsterstimmen immer tiefer ins Sofa. Darauf folgte das Lied «Hero», welches mich wieder ein bisschen aufweckte und das für lange Zeit mein Favorit des Albums werden sollte, was eigentlich wenig erstaunlich ist, ist dieses Stück doch das mit Abstand zugänglichste des gesamten Albums, wenn nicht gar des gesamten, leider viel zu kleinen Werkes der Band, die übrigens nur aus zwei festen Mitgliedern, nämlich Michael Rother an der Gitarre und Klaus Dinger am Schlagzeug bestand.

Und dann, ja dann, folgte «E-Musik». "E" wie "Ernst"? "E" wie "Elektronisch"? "E" wie "Egal"! Wie eine alte, schwere Dampflock beginnt das Schlagzeug Fahrt aufzunehmen (was für doofe Metaphern man sich doch ständig ausdenken muss, wenn man über Musik schreibt! Ich wette, das gibt Frontallappenkrebs - womit wir, zumindest Ansatzweise, auch noch das unvergleichbare und unerreichte Brain Label erwähnt hätten - oder irgend so was), dazu wimmert ein wohl selbst gebastelter Synthesizer, bis das Ganze Betriebstemperatur und -geschwindigkeit erreicht hat. Ab dann wird es mal wieder ein bisschen langsamer, dann wieder schneller, mal ein bisschen leiser, dann wieder lauter. Manchmal sind gleichzeitig bis zu vier Instrumente auszumachen, dann wieder nur das Schlagzeug. Und dann gibt es mal eine Weile gar nichts mehr zu hören.

Ja, die Krauts hatten Zuses Z1, waren während dem Dritten Seich die ersten mit einem Raumfahrtprogramm, haben den Airbag erfunden und auch das erste vollständig von einem Mikroprozessor gesteuerte Kniegelenk, aber der absolute Höhepunkt des (west-)deutschten Erfindungsgeistes ist und bleibt dennoch die Rock-Musik der 1970er Jahre. Die Musikermatten der RAF-Generation machten dort weiter, wo ihre Grossväter während der Weimarer Republik mit der Kamera aufgehört hatten. Und nirgends mehr als bei Neu! verbindet sich der Klang der Maschinen aus dem Moloch Metropolis mit der rasenden Manie und der alles durchdringenden Suggestionskraft des irren Dr. Mabuse kraftvoller und intelligenter als bei Neu!

Was einem entgegenschlägt, wenn man eine Platte dieser Combo hört, ist, auch - oder gerade - heute, nur schwer nachzuvollziehen. Das ist nicht Post-Rock (der wurde ja erst zwei Dekaden später erfunden), das ist Post-Post-Para-Rock. Von Menschen peinlich genau gespielte Maschinenmusik, die sich jedoch immer auf ironischer Distanz zur Mensch/Maschine Romantik anderer Zeitgenossen bleibt, Lieder ohne Ende und Anfang, Geräusche, die zu Musik werden und umgekehrt, Stücke, die einmal eingespielt wurden und dann einfach in verschiedenen Geschwindigkeiten auf Vinyl gepresst wurden (vgl. «Super», «Super 16» und «Super 78» auf «Neu! 2»), Loops, bevor dieser Begriff überhaupt angedacht wurde und die mit dem Kassettenrekorder hergestellt wurden, wobei man hört, wie zwischendurch zurückgespult wird ("Neu!" wiiiii, "Neu!" wiiiii, "Neu!" etc.). Das ist alles in allem so doll far out, wie es überhaupt nur möglich ist und war, ist und bleibt einflussreicher als der Nil und die Donau zusammen.

So war ich vor kurzen in einem Musikladen (online natürlich - eine traurige Realität, die wohl leider über kurz oder lang dazu führen wird, dass Typen wie der weiter oben beschriebene elendiglich aussterben werden. Ein Gedanke, der mir gar nicht gefällt, aber von meinem und vielen anderen chronisch zu dünnen Portemonnaies diktiert wird) und entdeckte eine neue norwegische Band. Ich wollte mich eben an eine Hörprobe wagen, als ich sah, dass es auf dem Album ein Stück gibt, das «C-Musik» heisst. Danach erfolgte der nächste Klick nicht auf den Hörproben-Link, sondern direkt auf den "In den Warenkorb legen"-Button. War, wen überrascht es, eine der tollsten Neu!entdeckungen des letzten Jahres. E-Haft!


Interpret: Neu!, Düsseldorf, Pott

Album: Neu! 75

Song: E-Musik

Jahr: 1975

Internet: Keine Website vorhanden.

Empfohlene Tätigkeit beim Hören dieses Songs: Eine Selbsthypnose durchführen.

Artwork: 1 Bär an der Scheibe.








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