Shawn Lee feat. Nicole Willis - «Jigsaw»
SOTW #28-2009
Helden auf Zeitreisen
Erst kürzlich haben wir uns von einem Künstler verabschiedet, der uns über längere Zeit hinweg mit seinen Songs begleitet hat. Vor allem seinen späten Alben blieb zwar die Aufnahme in den Pop-Olymp verwehrt, aber die frühen bis mittel-späten Werke waren Meilensteine. Von Off the Wall bis HIStory, das sind 16 Jahre und fünf Alben. Mit dieser Feststellung vor dem inneren Auge machte ich mich vor kurzem auf den langen Weg vom Sofa bis vor meine CD-Sammlung und stellte fest: Von vergleichsweise jüngeren und zeitgenössischeren Sängern und Bands steht meistens nur eine CD da, und falls es eine zweite daneben hat, dann gefällt sie mir in der Regel nicht so gut wie die erste. Entweder höre ich also heute die falschen Künstler (HG und Joe werden dem unter Verweis auf ihren jeweiligen Fetish-Artist zustimmen), oder aber wir haben es mit einem Phänomen unserer Zeit zu tun, das man mit One-Hit-Indie-Wonderism betiteln könnte. Warum ist das so? Dazu eine These:
Das Internet ist schuld!
Das Internet beschleunigt die Konsumkultur, die auch vor der Musik nicht halt macht, nie halt machte. Das Internet schlägt eine Autobahnbrücke über das für langfristigen Erfolg so wichtige Tal des langsamen Aufbaus, durch das einst eine gemütliche Landstrasse mit vielen Kurven führte. Das heisst: Von der Produktion über Entdeckung und Promotion guter Musik und anschliessender Vereinahmung erfolgreicher Bands der Subkultur durch den Mainstream geht es heute in der Regel nicht mal mehr ein Jahr. Künstler werden also dem Verwertungsmonster verfüttert und sind schneller ausgelaugt als wir Konsumenten auf unseren externen Harddisks Platz für noch mehr Musik schaffen.
Ist diese These haltbar? Eine schönes Gegenbeispiel wäre Jamie Lidell, der nach zwei Solo-Alben, vielen, vielen Konzerten und dem ebenso erfolgreichen Projekt super_collider dieses Jahr bei DRS3 ohne Ironie als 'Newcomer des Jahres' gefeiert wird. Und ich nehme mal an, dass man dort nicht erst 2009 den Ethernet-Anschluss an den Redaktionscomputern entdeckt hat. Und nicht nur Lidell kann gute Nachfolger-Alben vorweisen: !!!s Zweitling «Myth Takes» hat mich glücklich gemacht, ebenso Ben Kwellers neues Country-Album «Changing Horses» und alle Alben von Hot Chip und Emiliana Torrini. Bevor aber zu viel Freude aufkommt, hier noch die Gegenbeispiele der Gegenbeispiele: The Zutons, Art Brut, Franz Ferdinand (kann man diskutieren), Arctic Monkeys, Phoenix (kann man diskutieren), Clap Your Hands Say Yeah, Whitest Boy Alive (kann man diskutieren), Cansei de Ser Sexy.
Nach längerem Überlegen bin ich, zurück auf dem Sofa, zur Überzeugung gelangt, dass dieses Phänomen nicht ad-hoc erklärt werden kann, sondern (a) tiefergehender wissenschaftlicher Erforschung bedarf, aber (b) ich vorderhand keinen Doktortitel anstrebe. Falls sich jedoch jemand damit befassen möchte, hier ein paar unabhängige Variablen, die meiner Meinung nach Einfluss auf die abhängige Variable "Qualität nachfolgender Alben nach einem musikalischen Meisterwerk" haben könnten und sollten: Der Musikers an sich (ha!), Anzahl Jahre zwischen Alben, verantwortliches Label, Eigenschaften der Fans, Klimaerwärmung.
Die Quintessenz? Zu viel Raisonnement schadet dem Musikgenuss? Njet! Denn so habe ich Nicole Willis wiederentdeckt, Ehefrau des kongenialen Jimi Tenor und ebenso begabte Sängerin, die seit ihrem Erstling «Soul Makeover» im Jahr 2000 ihren eigenen Weg zwischen Trip Hop, Soul und Funk gefunden hat, der vor allem darin besteht, heute so zu klingen, als wäre 1970. Aktuell ist sie auf dem neuen Album «Soul in the Hole» von Shawn Lee zu hören, wo ihr Sound in guter Gesellschaft mit anderen funky Zeitreisenden ist.
Interpret: Shawn Lee, USA; Nicole Willis, USA
Album: Soul in the Hole
Song: Jigsaw
Jahr: 2009
Internet: Song anhören (bei KCRW); Shawn Lee Wiki, Website; Nicole Willis Wiki, Website. Auch einen Blick wert, vor allem für die langsam wachsende Mit-Kindern-Fraktion unter den treuen Lesern: The Flexatones feat. Nicole Willis - «Fresh», Sommerreggae und psychedelischer Trickfilm in einem.
Empfohlene Tätigkeit beim Hören dieses Songs: Zürichs Draussengastronomie geniessen, und sei es nur auf dem eigenen Balkon.
Artwork: Flickr-User dirkhaim
Comments
1. Ja, auch ich könnt auf einige Fetish-Artisten verweisen.
2. Schau dir Lidell mal live an, haut einem echt um, vorallem wenn man denkt, seine Musik sei nur Chill-Sound.
3. Die Dame hat ja ein Superlustiges CD-Cover!
Posted by: Lu | 14.07.09 21:35
Habe Jamie Lidell mal im Moods gesehen und mir dabei mittelstarke Sorgen um seine Gesundheit gemacht - so sehr wie ihn habe ich selten jemanden sich im alleingang auf einer Bühne verausgaben sehen. Hat wirklich gross gerockt.
Posted by: T | 15.07.09 9:10
jamie lidell alleine? wo war denn der typ der zwei saxonophone gleichzeitig spielt? btw. psychEdelisch ;)
Posted by: hg | 15.07.09 11:09