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The Beloved - «Sweet Harmony»

SOTW #45-2008

Pendelnde Harmonie

TheBeloved-SweetyHarmony-SOTW.jpg

Es ist nicht gerade das, was ich als klassischen Arbeiter-Soundtrack bezeichnen würde. Ganz bestimmt nicht sogar. Doch seit der CHANGE, und dieser Wort muss man immer mit Grossbuchstaben schreiben, seit also der CHANGE da ist, ist alles möglich. Auch das: Im frühmorgendlichen Gependel im Hauptbahnhof (siehe auch hier), eingeklemmt zwischen Menschenmassen und Baustellen, vernahm ich hinter einer Baustellenabschrankungswand Musik, die ich mehr als ein Jahrzehnt lang nicht mehr gehört habe. Wobei: 'Vernahm' ist vielleicht falsch ausgedrückt, denn das würde ja eher auf ein subtiles An-Mein-Ohr-Dringen der Musik hinweisen. Die vorherrschenden Lautstärke war aber ganz und gar nicht subtil. Und wenn ich es mir sehr gut überlege, dann ist 'Musik' vielleicht auch nicht eine sehr treffende Bezeichnung. Denn was da hinter der Wand um 8:22 Uhr aus den Boxen geprügelt wurde, war «Sweet Harmony».

Man kann von den 90ern halten was man will - und «Sweet Harmony» fasst schon mal zwei zentrale Aspekte zusammen:

1. Schlechter Geschmack: Zugegebenermassen kein sehr spezielles Merkmal eines musikalischen Jahrzehnts, sondern eher eine Art Ehrenauszeichnung - verliehen von den darauf folgenden Jahrzehnten. Schlechten Geschmack attestiert man jeweils den vergangenen drei aufeinander gefolgten Jahrzehnten. Aktuell davon betroffen sind also die 70er, die 80er sowie die 90er. Wobei man bei den 70ern dank dem voranschreitenden Alter des 21. Jahrhunderts bereits erste Zeichen einer Rehabilitierung erkennen kann. Denn das ist die zweite Gesetzmässigkeit: Ehemals durch schlechten Geschmack sich auszeichnende Jahrzehnte werden mit zunehmendem Abstand zur Gegenwart (> 40 Jahre) gleichsam geadelt und in den ehrenswerten Kanon der Musikgeschichte aufgenommen. Bei den 90ern wird das noch etwas dauern.

2. Träges Wohlfühlselbstbewusstsein: Vom vielen Wirtschaftswachstum wurden die Menschen in den 90er Jahren etwas träge. Das sieht man auch im Videoclip zu «Sweet Harmony»: Ganz gelangweilt sitzen sie da herum, die 90er-Menschen. Hatten nicht mal mehr genug Energie, um sich etwas anzuziehen. Wobei: Wirft man einen Blick auf andere herausragende Erzeugnisse der 90er, dann ist das mit den fehlenden Kleidern vielleicht auch ganz ok. Aber das Wohlfühlselbstbewusst sein, das war vorhanden. Denn die 90er, das war das Ende einer Entwicklung, die 1900 begann. Die höchste menschliche Entwicklungsstufe war erreicht. Am Ende stand sogar das Internet vor der Tür und funktionierte, was will man mehr. Rollerblades? Auch geil. Aber sonst? Zurücklehnen, man hat es geschafft. Alle Menschen lebten in einer friedlichen, sweeten Harmonie.

«Sweet Harmony» ist also weniger Musik als vielmehr ein Lebensgefühl - Innovation und Stillstand musikalisch vereint, die sauberste Form von Erotik, eine Art amputiertes «Je t'aime... moi non plus». Minimal pathetisch, aber trotzdem komisch schön. Und wenn es einen Ort gibt, wo dieses Lied nicht so sehr hinpasst, dann auf eine Baustelle im Hauptbahnhof. Am Morgen um 8:22 Uhr, wenn sich die Pendlermassen verschieben, mit viel Reibungswiderstand und Ellbogenkontakt. Und so bleibt man dann kurz stehen, eingehüllt in diese warme Wohlfühlmusik, umgeben von Menschen und doch allein. Und geht dann weiter, den Bauarbeitern nicht nur für die baldige Fertigstellung der Durchmesserlinie im Jahr 2013 dankend, sondern auch für die Bergung eines vergessenen Stücks Musik. Let's come together, right now, oh yeah, in sweet harmony. Mann, ist das kitschig.


Interpret: The Beloved, UK
Album: Conscience
Song: Sweet Harmony
Jahr: 1993

Internet: Last.fm, Band Website

Empfohlene Tätigkeit beim Hören dieses Songs: Den Videoclip anschauen. Und dann die alten Bravo-Hits CDs ausgraben.

Artwork: Yves für SOTW





Comments

nach studium des videos komme ich zum schluss, dass es bei diesem lied keineswegs um die thematik des pendelns geht, sondern dass der song textlich wie bildlich eine aufforderung zum gruppen-uku-uku darstellt, sacrebleu!

"Schlechten Geschmack attestiert man jeweils den vergangenen drei aufeinander gefolgten Jahrzehnten." ... Hehe, wie wahr! Und auch das Revival>40 ist gut beobachtet, siehe alle an die 60er angelehnten Newcomer Bands.

Und noch was: Die Baustellen, die ich morgens abpendeln muss, sind nie mit Musik hinterlegt... Frechheit! Für mehr Baustellen-Soundtrack!!! Für humanere Arbeitsbedingungen für Schwerschufter! Für sinnvollere Ohrenbeschädigung von Baustellenpassanten!

ups... wollte gar nicht anonym posten...

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