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The National - «Slow Show»

SOTW #51-2009

Wenn Inspirationslosigkeit ein gutes Zeichen ist

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Zwei Monate Nord- und Südamerika und trotzdem sitze ich total uninspiriert vor dem Computer und starre seit Stunden fassungslos und doch gleichgültig mein vereistes und kahles Bäumchen auf dem Balkon an. Für mich ist das ein herrliches Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass ich im Grunde glücklich und zufrieden bin. Ich grüble nicht, ich male nicht schwarz, ich verstricke mich nicht in unauflösbare Argumentationsketten, schreibe imaginäre Leserbriefe oder missbrauche songoftheweek für endlos triste Ausführungen über innere Zerissenheit. Andererseits habe ich deshalb auch keine Inspiration, keine neuen Ideen, fühle keinerlei Drang dem geschätzten Leser hier irgendwas mitzuteilen. Es scheint fast so, als entstünde tatsächlich nur aus Leid und Depression, oder, etwas dezenter formuliert, aus latenter Melancholie und punktuellem Wahnsinn etwas Innovatives und Kreatives. Zu diesem Thema empfehle ich allen dringendst das Buch Torture the Artist von Joey Göbel (auf Deutsch unter dem Titel Vincent zu finden). Da wird einem ausserordentlich talentierten und viel versprechenden Künstler ein Manager zur Seite gestellt, dessen Hauptaufgabe es ist, dafür zu sorgen, dass dieser Junge sein ganzes Leben lang nie richtig glücklich wird, dafür umso kreativer bleibt. Diese an sich sehr tragische Story ist gespickt mit sehr viel intelligenter Gesellschafts- und Medienkritik und befasst sich allgemein mit der Frage der Entstehung von guter Kunst und Kreativität. Eine gelungene Abhandlung, sofern man neue amerikanische Literatur mag und einem Schreibstil à la Nick Hornby nicht abgeneigt ist.

Zudem, wie mein angehender Chef mir an der Weihnachtsfeier erklärt hat, sind depressive Menschen am ehesten in der Lage, die Realität richtig wahrzunehmen, d.h. sie haben erwiesenermassen die beste Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung und sind deshalb, sofern sie sich aus ihrem Tief befreien können, zwar nicht glücklichere, doch oft erfolgreichere Menschen. Damit möchte ich aber auf keinen Fall die optimistischen Sonnenscheine da draussen als naive Langweiler in die Ecke stellen. Input kann durchaus auch von Glück ausgehen. Hoffe ich jetzt einfach mal und nehme mir vor, das im neuen Jahr mal auszutesten.

Ein weiterer Vorsatz fürs neue Jahr besteht darin, endlich Matt Berninger zu heiraten. Das ist schon lange überfällig. Denn ein Mann mit einer solchen Stimme kann nur glücklich machen. Fein, aber rau, einfühlsam, aber bestimmt, aufwühlend und trotzdem beruhigend präsentiert sich der Sound von The National: „a meditative rumble that starts in the heart, gets caught in the brain, and resonates outward“, wie sie sich selbst beschreiben. Ein schon länger bestehendes Juwel, deren Musik man zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten hören kann, sei es auf einer Sonnenterasse mit Blick aufs Meer und einem guten Gin Tonic, sei es in der winterlichen Stube bei Wohlfühltee und Zimtsternen.

Zum Einstieg in diese musikalische Welt eignen sich zum Beispiel die Songs Apartment Story oder Fake Empire ab dem Album Boxer aus dem Jahre 2007 oder auch Daughters of the Soho Riots ab dem Album Alligater von 2005. Mein persönlicher Favorit ist jedoch der Song Slow Show von 2007, weil er eine der für mich hoffnungsvollsten Liebeszeilen überhaupt enthält, die gegen Ende des Liedes mit einer wundervollen Klavierbegleitung eingeleitet wird:

You know I dreamed about you
for twenty-nine years before I saw you
You know I dreamed about you
I missed you for twenty-nine years.

Ob ich den Song mit Dreissig noch mag, hängt dann wohl sehr von meinem Beziehungsstatus ab... Doch im weihnachtlichen Sinne verabschiede ich mich hoffnungsvoll und wünsche euch allen gutes Essen, erfreuliche Geschenke, wenig Familienkrach, viel Nerven und einen feucht-fröhlichen Rutsch ins 2010. Man liest sich!

Interpret: The National, US
Album: Boxer
Song: Slow Show
Jahr: 2007

Internet: Myspace, The National Website, Torture the Artist on Amazon

Empfohlene Tätigkeit beim Hören dieses Songs: Genau hinhören und hoffen.

Artwork: Fischli und Weiss, Findet mich das Glück?, leicht modifiziert





Comments

Ist mir erst heute aufgefallen: Du scheinst dieses Büchlein tatsächlich sehr zu mögen (-> http://www.songoftheweek.ch/archiv/nick_drake_rain.php)

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