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Cole Porter - «Anything Goes»

SOTW #11-2009

Musikgeschichtliches Panoptikum

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Offenbar wurde früher auch schon Musik gehört. Schwer vorzustellen, gewiss, aber dennoch wahr. Und mehr noch: in einer Ära, in der selbst so simple Vergnügungen wie Twittern, Extreme Ironing und Wer wird Millionär - Das Computerspiel nicht verfügbar waren, stellte andächtiges Lauschen praktisch die einzige bezahlbare Freizeitaktivität dar. Eine dunkle, primitive Zeit.

Doch es kommt noch dicker: da die Möglichkeiten, Musik zu "tauschen" auf tatsächliche, real existierende Medien beschränkt war, musste man sich zu diesem Behufe mit Freunden in persona, d.h. auf einer physikalischen Ebene treffen. Natürlich eine etwas befremdliche Vorstellung; es bleibt insbesondere schleierhaft, wie diese "Treffen" überhaupt organisiert werden konnten, da social networking erst einige Dekaden später erfunden würde. Eine schlimme, verzweifelte Zeit.

Komplett unvorstellbar jedoch folgende Tatsache: Da abgesehen von hochspezialisierten, nur auf Papier verfügbaren Periodika nirgendwo auch nur grundlegendste Informationen über Musik und die Personen, die sie herstellten, erhältlich waren, gab es praktisch keine Möglichkeit, sich durch seinen Musikgeschmack zu differenzieren. Die Leute hatten schlicht keine Ahnung. Eine trostlose, deprimierende Zeit.

Diese traurigen Befunde bringen uns jedoch auf eine interessante Trouvaille aus jener Zeit; die heute so gut wie vergessen geratene Institution des "Rundfunks". Grundsätzlich eine interessante Idee: Um nicht immer dieselben drei Schellackplatten auf Dauer-Repeat anhören zu müssen, hatte der abenteuerlich gesinnte Bürger längst vergangener Zeiten die Möglichkeit, für kleines Geld einen sogenannten "Radioapparat" zu erwerben, welcher ihm auf wundersame Art den Empfang der durch den Äther schwingenden Hörfunkprogramme ermöglichte. Natürlich war diese ernste Angelegenheit streng staatlich reglementiert, auf dass der brave Zuhörer sich sorglos dem konstanten Schwall an Propaganda und wohltuender, unverdächtiger Musik hingeben konnte. Später dann wurden die Restriktionen etwas gelockert, worauf dynamische, risikofreudige Jungunternehmer die Demagogie durch Schrott und törichtes Geschwätz ersetzen konnten und die seichte Musik durch sehr schlechte Musik. Der Fortschritt war nicht aufzuhalten. (In der Schweiz war übrigens eine besonders charmante Abart des Radios beheimatet: der trefflich benannte "Telefonrundspruch", was nicht viel mehr bedeutete als "Ich nehme den Hörer ab und es kommt Musik raus".)

Eine verwandte, bedeutend kurzlebigere historische Kuriosität, die Teenagern einer früheren Generation lieb und teuer war, heute aber selbst historisch versierten Pop-Theoretikern wohl nur ein Stirnrunzeln entlockt: das Phänomen des "Musikfernsehens". Realisiertes Oxymoron, Zerstörer der Radio-Stars, Gesellschaftskritik in seiner reinsten und unfreiwilligsten Form. Die Idee war bestechend einfach: Leute mochten Musik, auch belanglose (wie das Radio bereits bewiesen hatte), und Leute mochten Fernsehen. Sehr sogar. Die Kombination musste folglich einschlagen wie eine Bombe. Da der Musik zu jener Zeit das visuelle Element noch etwas abging, wurde im Nebeneffekt gleich auch noch das sogenannte "Musikvideo" erfunden, in welchem Musiker zu ihren Liedern verdutzt, aber (anfänglich zumindest) zuversichtlich aus der Wäsche blickten. Nachdem Musikfernsehen mit respektablem Erfolg einige Zeit existiert hatte, zeigten Fokusgruppen-Befragungen, dass die Zuschauer das Programm durchaus schätzten, sich aber durch den Musik-Teil des Musikfernsehens zunehmend gestört fühlten. Dies führte für die Musiksender — noch vor ihrem endgültigen Sturz in die Irrelevanz — zur interessanten Situation, dass sie die einzigen Kanäle waren, auf welchen man garantiert zu keiner Tageszeit von Musik belästigt wurde. Die Revolution frass ihre Kinder.

Wer auch etwas gefressen hat, nämlich einen Narren an prähistorischer Musik, dem wird vielleicht der folgende Song von Cole Porter gefallen. Ehrliches Handwerk.

Interpret: Cole Porter
Album: Anything Goes (Musical)
Song: Anything Goes
Jahr: 1934

Internet: Youtube, Wikipedia.

Empfohlene Tätigkeit beim Hören dieses Songs: Alles, was in beschwingtem Zustand auszuführen ist.

Artwork: Das Orion Deep Field. Hat nichts mit dem Lied zu tun, sieht aber schön aus!





Comments

Dorianeske Kritik an unserer Pop-Gesellschaft, ein neues Genre! Wie schön. Das Buch dazu würd ich mir sofort kaufen. :)

lieber herr dunnerund, auch wenn ihre schreibe so unterhaltsam ist wie ein besoffenes känguruh in der u-bahn, sind und bleiben sie ein gaukelnder hochstapler: hier den jasser cole porter portieren, aber zuhause jedesmal protestierend abwinken, wenn ein "schieber" vorgeschlagen wird!!! "anything goes", wahrlich! ;)

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