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Amy Winehouse - «Love Is A Losing Game»

SOTW #1-2008

Im Haus wird geweint

weinhaus.jpg

Es ist ein Spiegel zwischen uns. Ich sehe hindurch, stehe vor ihr und starre sie an, doch sie sieht mich nicht. Sie kann uns alle nicht sehen. Tausende, die jede ihrer Bewegungen begutachten und jedem ihrer Töne lauschen. So bildet sie sich ein, ganz alleine im Saal zu sein.

Sie singt, sie flüstert, sie flucht.

Ein Gähnen hier, dann kurz am Kopf kratzen, ein Schluck vom Drink, und immer wieder die Hand zur Nase und schnell ein paar mal hin- und hergewischt. Dazwischen die Stimme, schwach und leise, aber gleichzeitig so ungemein kräftig. Und schön. Herzzerreissend schön, unmenschlich schön, oder besser: Unmöglich schön. Mein Hirn wehrt sich gegen das vermeintlich paradoxe Spektakel. Es will nicht akzeptieren, dass solch mächtige Töne aus einem so zierlichen Gebilde entstehen können.

Sie steht, sie tanzt, sie torkelt.

Ihr Körper gleicht einem ausgebombten Kriegsgebiet. Spuren der (Selbst-)Verwüstung, grosse, farbige Graffitis als Hilferufe der Unterdrückten. Und unzählige Einschusslöcher. Das ganze kann sich gerade noch aufrechterhalten, mehr aber nicht. Ich bin mir sicher: Eine falsche Bewegung, ein kurzer Knick der Beine, und sie würde auseinanderfallen.

Schämen sollte sie sich, höre ich jemanden hinter mir sagen, doch so einfach ist es nicht. Niemand ist mit der Absicht hergekommen, einem menschlichen Kollaps in Echtzeit zuzusehen, und doch sehe ich keinen, der den Saal wieder verlässt. Wären wir im Freien, hätte man schon lange eine Ambulanz gerufen. Nein - wir sollten uns alle schämen.

Statt als reifer Musikliebhaber unter meinesgleichen finde ich mich in einem Zoo wieder. Hinter mir Unmengen von Schaulustigen, und vorne, einsam unseren gierigen Blicken ausgesetzt, die vom Aussterben bedrohte Gazelle. Die Einbildung, realisiere ich, ist unsere: Wir beobachten sie aus der Nähe, und doch beschwören wir eine Distanz herauf, die uns beschwichtigen soll. Mensch kann ja nicht Gazelle werden.

Ich gehe nach Hause nach 40 kurzen Minuten. Lautstark wird über den Auftritt geflucht - sie war arrogant, sie war abwesend, sie war besoffen - und doch tönt alles halbherzig. Wir hätten es zwar anders erwartet, aber es wurde uns eine Show geboten. Alle schauten hin. Der Spiegel war da, aber er gab uns bloss einen Einblick in uns selbst.


Interpret: Amy Winehouse, UK
Album: Back to Black
Song: Love Is A Losing Game
Jahr: 2006

Artwork: Mit ImageWell zusammengebastelt.





Comments

Wow.. absolut fantastisch gedacht und geschrieben... ich war zwar an keinem ihrer Konzerte, aber aus der Ferne habe ich mir schon des öfteren solche Gedanken gemacht...

Eigentlich sollten man alle jede die von ihrem Absturz profitieren zur Rechenschaft ziehen können...

Das arme Mädchen weiss doch gar nicht wie ihr geschieht...

Ihre Seele kann man in jedem ihrer Songs weinen hören. Tragisch schön. Wollte ihr den nächsten Sonntag widmen, aber du kamst mir zuvor. Gut gemacht.

Dann bin ich für die Aufhebung der OAPY (one artist per year) Regel. Muss morgen besprochen werden. Würde nämlich gerne deine Gedanken zu Amy lesen.




SongOfTheWeek

Geschichten, die die Musik schreibt. 1x pro Woche, mit tollen Metaphern.

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