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Kino - «Peremen»

SOTW #15-2010

Ein Kino-Besuch der ganz besonderen Art

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Heute mal was ganz anderes, nämlich Rockmusik aus der Sowjetunion! Aus Leningrad, um Präzis zu sein. Denn dort blühte im Vergleich zur besser überwachten ("L’oeil de Moscou") Hauptstadt die Kultur um elektrische Gitarren, speckige Lederjacken und geile Tollen während den 1980er Jahren regelrecht auf. Und mitten drin, oder besser unten drin – denn so richtig toleriert waren weder Musik noch dazugehöriger Lifestyle – im lauten Untergrund befanden sich Kino und ihr Sänger Wiktor Robertovitsch Tsoi. Tsoi geht äusserlich, wie ihr zweifellos feststellen werdet, wenn ihr euch pflichtbewusst durch die Linksammlung am Ende klickt, glatt als Jim Morrison des Warschauer Pakts durch, von seinem koreanischen Gesicht mal abgesehen. Der Rest – Pose, Look und Attitüde – stimmen einwandfrei.

Der Koryo-saram Tsoi und seine Gruppe waren von westlicher Musik inspiriert und wollten nach Eigenaussage gerne so klingen wie Duran Duran (hey, jetzt nicht den Kopf schütteln und/oder lachen, die Jungs lebten schliesslich weit hinter dem Eisernen Vorhang!). Ob sie dieses Ziel tatsächlich erreicht haben, kann ich leider nicht beurteilen, da ich Duran Duran zu wenig gut kenne. Die tollsten der Kino Titel erinnern allerdings viel mehr an die Smith oder die Cure und dürfte auch vielen Noir Désir Fans Aha-Erlebnisse der besonderen Art bescheren. Insofern soll uns die obige Ansage also nicht stören. Die Texte der Band, und ich stütze mich hier auf Sekundär- und Tertiär-Literatur sowie holprige Übersetzungen, sind geistreich und bestimmt und bieten praktisch immer mehrere Lesarten, mindestens jedoch je eine für die Zuhörer und eine für die Zensoren. Wie jede anständige Rockband legten sich auch Kino mit den Behörden (Konzertverbote et al.) an, was unter den gegebenen Umständen dazumal nicht allzu schwierig gewesen sein dürfte. Obwohl ihre Alben vor Beginn der Perestroika reine Bückware waren, erfreuten sich Kino bereits zu Beginn ihres Schaffens wahnsinnig vieler Fans.

Mir, als glücklichem (Digital-)Besitzer der Alben «Grand Collection» und «Live 1988-1990» haben es besonders die Songs «Peremen» ("Veränderungen") und «Mama Anarhiya» (…) angetan. Ersterer kommt musikalisch so nahe an die Bezeichnung zeitlos heran, wie ein Lied aus den 1980er Jahren das überhaupt kann. Inhaltlich ist es ein – Ende der Achtziger dank Gorbi nun tolerierter – eindringlicher Schrei nach politischer und gesellschaftlicher Veränderung, der wohl auch im heutigen Putin-Russland noch immer angebracht ist, insbesondere wenn man SchriftstellerIn und/oder JournalistIn ist. Mama Anarhiya hingegen erzählt, wie einige Rocker eine Gruppe Soldaten aufmischen und auf die Frage der Vertreter der Roten Armee nach ihren Eltern mit dem Refrain "unsere Mutter ist die Anarchie, unser Vater ein Glas Portwein" antworten. Allerdings gefällt eigentlich die ganze Songpalette, zu anders und zu toll ist der russische Gesang, so vielseitig und abwechslungsreich die Stile und die Stimmungen und dermassen krass die Vorstellung, in und gegen welchen Apparat diese Jungs gerockt hatten. Inhaltlich deckten Tsoi und seine Mannen alles ab, was die Lebenswelt im real existierenden Sozialismus prägte, vom Pendeln in alten und überfüllten Fahrzeugen («Elektrischka») über zugegeben eher schmachtende (siehe Absichtserklärung weiter oben) Liebeslieder und Kommentaren zur prekären Wohnsituation («Boshetunmai») bis hin zu Anti-Kriegsliedern («Gruppa Krovi»).

Ende der Achtziger durften solche Themen dann auch in grossen Stadien breitgetreten werden, immer mehr sogenannte Perestroika-Bands tauchten auf und westliche Rock-Grössen wie die Scorpions oder Van Halen durften in Leningrad auftreten und wurden von tausenden Fans empfangen, die alle Lieder mitsingen konnten, obwohl die Platten und Kassetten dieser Bands nirgends gekauft werden konnten. Unten findet ihr den Link zu einem der letzten Konzerte von Kino, das 1990 im Moskauer Olympiastadion stattgefunden hat. In dem Stadion also, in welchem zehn Jahre zuvor noch die Olympischen Spiele ausgetragen wurden, bei denen die Sowjets angeblich mit Atomraketen auf Wolken geschossen hatten, um schönes Wetter zu garantieren und denen sämtliche NATO-Staaten aus Protest gegen den Einmarsch der Roten Armee nach Afghanistan fern geblieben waren. Jetzt feierten am selben Ort Jugendliche und Soldaten gemeinsam, ein eindrückliches Dokument - mal abgesehen von der Ton-Qualität.

Nachdem er die Apparatschiks mit seiner Band weggerockt hatte, starb Tsoi 1990 in einem Autounfall. Auch wenn ich die Musik Kinos weiter oben mit westlichen Bands zu Beschreiben versucht habe, ist damit natürlich eigentlich noch gar nichts gesagt, nicht nur durch die fremde Stimme versprüht dieser Sound eine gewisse Exotik und Neuartigkeit. Die Band war gewiss von westlicher Rockmusik inspiriert, wurde aber auch von der lokalen Szene und deren Bands mitgeprägt und fertigte daraus einen eigenen, stilistisch, Genre-technisch und Instrumenten-mässig breitest möglich gefächerten Sound. Die Verehrung für die Band und Tsoi hält bis heute an, noch immer schreiben anscheinend Leute "Tsoi lebt" an Wände in St. Petersburg, in Moskau und in der ganzen neuen Welt. Und der Sound von Kino tröstet eindeutig ein wenig über die Hymnen der deutschen Wiedervereinigung («Looking for Freedom», «Wind of Change» – in der russischen Version übrigens «Veter Peremen») hinweg und gibt der Wende endlich die Vertonung, die sie verdient hat. Na sdorowje!

Interpret: Кино / Kino, Leningrad, UdSSR

Album: Последний Герой / Posledniy Geroy ("Der letzte Held")

Song: Перемен / Peremen

Jahr: 1989

Internet: Wikipedia, Peremen Live, Tsoi Gedenkwand.

Empfohlene Tätigkeit beim Hören dieses Songs: Über Commies nachdenken. Und natürlich mitsingen!

Artwork: Ein Klassiker der zeitgenössischen Malerei: «Prypjat» von Mathis.





Comments

aber du kannst doch gar kein russisch singen! hatten Tsoi denn auch so ne schicke Lichterjacke auf der Bühne an?

pah! peremen rewodlu nasche srta, peremen rewodlu nascha glasa... mü schtom peremen... :-P
du meinsch die da: http://www.youtube.com/watch?v=NxAd2sHtMf0 ? glaub nöd..;)

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