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Venetian Snares - «Hajnal»

SOTW #29-2008

Klassik für Atemlose

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Breakcore ist zugegebenermassen ein seltsamer Zeitgenosse. Ungerade Metren, Tempi, die sich jeglicher tänzerischer Tätigkeit verweigern, und Songtitel, die man im Plattenladen nicht laut aussprechen kann, ohne irritierte Blicke zu ernten – allgemeine eine bedenkliche Missachtung gängiger musikalischer Konventionen – beschränken seine Fangemeinde auf überschaubare Grösse. Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten dieser Fans nicht mehr alle Tassen im Schrank haben. Um den grossartigen Ishkur von Ishkur's Guide to Electronic Music zu zitieren: "Noisecore (Breakcore) is not music insomuch as it is anti-music." Dieser Charakterisierung ist eigentlich nichts hinzuzufügen.

Einem der vielseitigsten Protagonisten des Genres sei darum dieser SOTW gewidmet: Venetian Snares. Aaron Funk hat unter diesem Namen in den letzten paar Jahren vermutlich etwa sieben Millionen Alben produziert, die von beinahe zugänglich («Doll Doll Doll») bis zu absolut unhörbar («Making Orange Things») ein breites Spektrum an Lärm abdecken. Wobei unhörbar nicht im Sinne von unterhalb der Hörschwelle zu verstehen ist – ganz im Gegenteil. Es fällt äusserst schwer, die Musik von Venetian Snares nicht wahrzunehmen.

2005 entstand «Rossz csillag alatt született». Polyglotte Leser erkennen hier Ungarisch und übersetzen mit "Geboren unter einem schlechten Stern." Der so betitelte Langspieler richtet sich hauptsächlich an eine Hörerschaft, die immer wieder vor dem Dilemma "Entweder klassische Musik oder aber kryptische, viel zu schnelle Schlagzeug-Samples – warum nicht beides?" steht. Diese Leute finden meistens auch Aphex Twin ganz toll.

Ich habe exemplarisch das Lied «Hajnal» ausgesucht, das sich unter anderem aus Igor Strawinskis «3 Stücke für Klarinette» bedient. Bis zur vierten Minute tarnt sich der Song dann auch wirklich als seriöses Schaffen, zwischendurch gar mit jazzigen Untertönen. Als Filmmusik vielleicht kommerziell verwertbar, auf alle Fälle nicht das Richtige, um Freunde zu vertreiben.

Was dann folgt, würde Strawinski aber wohl wütend werden lassen. Im 7/4-Takt mischen zerschnittene Drum-Loops die Streicher auf, bedrohliche elektronische Klänge verängstigen das restliche Ensemble. Das Ganze ist wirklich ein bisschen erschreckend, wenn man nicht darauf vorbereitet ist. Erstaunlicherweise entsteht bei näheren Hinhören dennoch so etwas wie musikalische Kohärenz – zumindest verglichen mit anderen Verbrechen, die Venetian Snares schon begangen hat. Zum versöhnlichen Abschluss darf sogar das Orchester wieder übernehmen.

Das Werk eignet sich insgesamt meiner Meinung nach nur bedingt dafür, bei einer jüngeren Generation wieder ein vermehrtes Interesse an Mozart, Bach und Konsorten herzustellen. Eigentlich eignet es sich sogar ausschliesslich dazu, ein Kuriosum der Musikgeschichte darzustellen, eines mit 180 BPM. Eventuell löst es etwas Reflexion beim Hörer aus, wahrscheinlich lässt es ihn aber eher ratlos zurück. Auf alle Fälle kann man sich nachher guten Gewissens Bon Jovi reinziehen.

Interpret: Venetian Snares, Kanada
Album: Rossz csillag alatt született
Song: Hajnal
Jahr: 2005

Internet: Offizielle Website, Youtube, Ishkur's Guide to Electronic Music

Empfohlene Tätigkeit beim Hören dieses Songs: Kontemplation

Artwork: Wo sich Igor Strawinski gerade dreht, von Wikipedia-User Smerus.





Comments

Creepy... da brauchts schon noch ein paar Blumen mehr auf dem Grab... ;)

ist das so die art musik, die manchmal aus deinem zimmer tönt? wenn ja, möchte ich dazu mal einen asimo tanzen sehen! ausserdem wäre es lustig, wenn dieser herr snares mal im jung-erwürdigen stravinski-auditorium zu montreux auftreten würde, ich wette, da würden sich die balken biegen...

Empfehlung aus eigener Erfahrung:

Bei Post-Zmittag-Koma-Syndrom obiges Youtube-Video bei voller Lautstärke abspielen (unbedingt mit Kopfhörer, zur Wahrung des Bürofriedens). Brutaler und effizienter als jeder Wecker um 6 Uhr morgens.

Oder nicht zu McDonald's gehen.

Schöner Artikel und interessante neue Aspekte, warum sollte dem großen Strawinsky eine Symbiose aus Elektronik und E-Musik nicht gefallen?

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